WEIHNACHTEN IST HEUTE
27. Dezember
Uff, geschafft! Rosemarie sinkt in ihren Sessel.
Sie spürt ihre Beine nicht mehr.
Endlich hat sie es geschafft, hat die Spitze ihrer
Verpflichtungen erfolgreich erklommen und bewältigt. Der jährliche Stress ist
für sie vorüber. Die falsch geschenkten Sachen umzutauschen, ist jetzt nur noch
eine Kleinigkeit.
Sie zieht Bilanz. War es denn ein gelungenes Fest? Hatten
alle Spaß?
Müde und erschöpft sitzt sie da und denkt nach, erinnert
sich an den November, in dem sie mit den Vorbereitungen begann …
Frohes Mutes hatte sie eine Liste von Freunden, Bekannten
und Familienmitgliedern gemacht: Theo bekommt nur eine Karte, Georg hatte mir
einen CD-Player geschenkt. Dem muss ich nun auch etwas im Wert von 100 Euro
schenken. Wie sieht das sonst aus?
Sie notierte und schrieb und letztendlich kam sie auf eine Summe von 1.000 Euro, die sie für
Geschenke einplanen musste. Kaum machbar – das war ja ein Monatsgehalt! Sie
fing an zu streichen. Mit Baum, Essen und Getränken kam sie aber dann letztendlich
doch wieder auf 1.000 Euro. Nun, vielleicht nehme ich einen Kleinkredit auf,
dachte sie, den kann ich ja anschließend abbezahlen. Mir ist wichtig, dass
meine Familie und Freunde ein schönes Fest haben.
Der Entschluss stand. Sie stürzte sich auf alle Beilagen der
Zeitungen, die Sonderangebote versprachen. Oft waren die günstigen Angebote weit
weg, aber es lohnte sich nicht 25 km zu fahren, um 50 Euro zu sparen? Sie
erlebte stressreichen Stunden auf den verstopften Straßen und in den völlig
überfüllten Läden. Die Leute in ihren dunklen Winterkleidern rempelten rücksichtslos
durch die Gänge, traten ihr auf die Füße. Sie erkämpfte sich den Weg zu einem
besonders günstigen Angebot. Wieso waren die Leute im November schon so
verrückt? Sie stopfte sich die Taschen mit preiswertem Weihnachtsgebäck voll.
Das gab es bereits ab August in den Läden. Wie praktisch! Vielleicht hätte sie
das noch früher kaufen sollen. Christstollen für 2 Euro, Plätzchen für 1 Euro.
Da lohnte sich das Selbstbacken ja gar nicht mehr! So hatte sie wertvolle Zeit
gespart, die ihr vor Weihnachten an allen Ecken und Enden fehlte. Sie hetzte
weiter.
So war es Mitte Dezember geworden und es fehlten ihr immer
noch zwei Geschenke. Die Kinder quälten sie bereits entsetzlich, fragten jeden
Tag: Warum bekomme ich meinen Nintendo nicht schon jetzt? Wann ist endlich
Weihnachten? Rosemarie war bereits so genervt, dass sie den Kindern am liebsten
alle Päckchen sofort gegeben hätte, nur um endlich Ruhe vor der Fragerei zu
haben. Aber sie besänftigte die Kids geduldig.
Endlich – der 24.12.!
Warum hatte Gerd nur so einen mickerigen Baum gekauft? Wenn
Else mit Anhang kam – wie würde das aussehen? Sie raste noch schnell in den
überfüllten Supermarkt, um noch mehr Christbaumschmuck zu ergattern. Reich behängt
sollte man den krüppeligen Baum nicht sehen. Sie rempelte durch die Gänge,
raffte alles in ihren Einkaufswagen. Sie hatte schon aufgehört zu rechnen. Was
solls – ist ja Weihnachten. Irgendwie würde sie ihre marode Haushaltskasse
schon wieder ausbügeln.
Ein Anruf: Else war krank und kam nicht. Verdammt! Und wegen
der hatte sie extra noch den Flitter gekauft. Aber, na ja, die Kids fanden es
sicher auch toll.
Sie war morgens um sechs Uhr aufgestanden, um des Essen
vorzubereiten. Sie war so schrecklich angespannt. Würde denn alles so recht sein?
Schmeckte es allen? Würden ihre Geschenke ankommen?
Der Baum thronte in der Zimmerecke. Ihre Familie bemühte
sich, feierliche Gesichter zu machen. Ihrem Mann gelang das ganz gut, weil er
schon ziemlich angetrunken war. Die Kinder zappelten vor unverhohlener Gier.
Niemand wusste mehr den Text von einem Weihnachtslied – also
umarmte man sich und wünschte frohe Weihnachten. Dann endlich bekamen die
Kinder den Startschuss und stürzten sich auf ihre Geschenke. Sie zerfetzten
rücksichtslos die hübsch verpackten Päckchen. Berge von extra liebevoll
ausgesuchtem Geschenkpapier türmten sich auf dem Teppich.
Ach, man hatte ihr ein neues elektrisches Schneidemesser für
die Küche geschenkt, wie nett! Und ein billiges Parfüm aus dem Supermarkt mit
dem Geruch eines türkischen Bordells von den Kindern. Ihre gute Laune verging
schlagartig, als sie an die vielen Euros dachte, die sie für die anderen bei
Douglas gelassen hatte.
Sie versuchte nicht daran zu denken, sondern schleppte für
Familie und Gäste das Essen aus der Küche heran. An eine Mithilfe der Kinder
war jetzt nicht mehr zu denken. Die waren ja mit ihren neuen Sachen
beschäftigt. Rosemarie suchte im Radio Weihnachtslieder. Ihr Mann und Onkel
Karl stritten sich darüber, ob der neue Porsche wirklich 16 oder 18 Liter Sprit
verbraucht. Sie waren beide betrunken.
Warum wurde denn der Nudelsalat nicht gegessen?
Wahrscheinlich waren die Gurken doch nicht mehr gut gewesen.
Rosemarie streift die Schuhe von den schmerzenden Füßen. Am
ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag war sie wieder um sechs Uhr morgens
aufgestanden, um die Reste des jeweiligen Vortages wegzuräumen. Schließlich kam
an einem Tag seine Familie und am nächsten die ihre, und es sollte ordentlich
aussehen. Sie kochte große Menüs und flitzte und rannte, um die ganzen Gäste zu
bedienen.
Wenn sie jetzt so nachdenkt, hatte sie drei Tage an einem
Stück bedient, geräumt und geputzt. Sie fühlt sich ausgenutzt. Irgendwie hatte
sich niemand um sie gekümmert. War es jemandem wichtig gewesen, wie es IHR
während des ganzen Theaters ging? Sie kann sich an kein lächelndes Gesicht oder
an ein Dankeschön erinnern.
Rosemarie sitzt in ihrem Sessel mit schmerzenden Beinen und
fühlt sich auf einmal unendlich einsam und leer.
Was bitteschön war jetzt der Sinn der ganzen Sache gewesen?
Die Verwandtschaft war laut, nervig und verfressen. Sie hatten die Geschenke
gerafft und waren verschwunden. Die Kinder hatten ihre neuen Sachen
größtenteils schon kaputtgemacht. Ihr Mann saß verkatert und murrend an seinem
Schreibtisch. Sie war um 1.500 Euro ärmer – 1.500 Euro, die sie eigentlich gar nicht hatte.
Was war eigentlich los gewesen? Wer hatte sie dazu getrieben,
das alles zu machen?
Rosemarie denkt an das nächste Weihnachten und fängt an zu
weinen.
Pat McCraw2000